Stell dir vor, du hast einen Bandscheibenvorfall. Die Schmerzen sind so schlimm, dass du eine OP benötigst.
Natürlich hoffst du, die Symptome dadurch loszuwerden. Aber eigentlich geht der Albtraum erst los.
Du hast nach wie vor starke ausstrahlende Rückenschmerzen. Die Muskeln in deinem Fuß sind in ihrer Funktion eingeschränkt. Und du benötigst täglich Tilidin (ein starkes Opiat). Der Grund dafür ist beinahe absurd...
So erging es Susanne.
Drei Jahre später hebt sie 80 kg im Kreuzheben und hat nur noch selten Probleme.
In diesem Artikel zeige ich dir, wie wir das geschafft haben. Konkret erfährst du:
- Wie wir mit einem strukturierten Fahrplan an Susannes Beschwerden herangegangen sind,
- Was wir nicht gemacht haben, um Susanne zu helfen und
- Wie sie letztlich beschwerdefrei geworden ist und wieder 80 kg heben kann.
Wichtiger Hinweis
Dieser Artikel ist nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben und enthält aktuelle Ergebnisse aus der modernen Forschung. Dennoch ersetzen die Inhalte keine ärztliche Beratung, sondern dienen lediglich der Information.
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Die Vorgeschichte und Anamnese
Manchmal meint es das Leben nicht gut mit dir. Du hast Schwierigkeiten im Beruf. Im Freundeskreis gibt es nur Stress. Es stirbt ein Familienmitglied...
"Ich habe mich in das Training geflüchtet und meine Regeneration total vernachlässigt," erzählt Susanne im ersten Gespräch.
Doch die Kombination aus Überlastung, fehlender Regeneration und Stress hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Es folgte ein großer Bandscheibenvorfall in der LWS, der operiert werden musste.
Leider ist bei der OP etwas schief gegangen. "Es gab Metallabrieb, der in den Nerv eingewachsen ist," sagt Susanne.
Anschließend geht ein beschwerlicher Weg los:
- Der Neurochirurg will am liebsten nochmal operieren
- Der Orthopäde sagt, sie solle einfach Gewicht verlieren
- Der Hausarzt übermittelt sie an eine stationäre Schmerzklinik
- In der Physio hilft Wärme kurzfristig; alles andere tut zu sehr weh
Und nun sitzt sie vor mir: Komplett verunsichert und will eigentlich nur wieder CrossFit machen.
Mittlerweile benötigt sie täglich Tilidin (ein starkes Opiat) und weitere Schmerzmittel. Ihre Gehstrecke liegt bei MAXIMAL 2 km am Tag, die Vorbeuge ist stark eingeschränkt und der Fuß hat eine dauerhafte Parese.
An Schlafen ist aufgrund der Schmerzen kaum zu denken.
Innerlich denke ich mir so:" Fuck! Wie willst du Susanne helfen?!"
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Das Assessment und die Befunde
Nach außen bleibe ich ruhig, empathisch. Ich höre einfach zu und versuche die Situation zu verstehen.
Dann gehen wir ins Assessment über. Das Wichtigste: Einen klaren Fahrplan haben, nicht IRGENDWAS machen:
- Orthopädie.
- Range of Motion.
- Kraft.
- Funktion.
Schauen wir uns an, was bei Susanne auffällig war.
#1 Orthopädische Tests
Bei Susanne findest du im MRT allerhand Diagnosen: Bandscheibenvorfall, Athrose der Facettengelenke und, und, und...
Was machst du damit?
Im ersten Schritt wollen wir herausfinden, was Susannes Schmerzauslöser sind. Im Testing haben wir folgende Schmerzauslöser gefunden:
- Die Beugung der LWS
- Streckung in Rotation
- positiver Slump-Test (6 von 10)
- positiver Lasegue-Test
- Sehr sensibel bei Scherkräften
Dies bestimmt die spätere Übungsauswahl und zeigt, was wir erstmal NICHT machen.
#2 Range of Motion
Die Wirbelsäule kann sich in drei Ebenen bewegen:
- Sagittalebene: Beugung nach vorn und Streckung nach hinten
- Frontalebene: Seitneigung nach links und rechts
- Transversalebene: Rotation nach links und rechts
Am auffälligsten bei Susanne: Die Beugung nach vorn ist eingeschränkt (vermutlich aufgrund der Schmerzen). Und die Lendenwirbelsäule lässt keine Bewegung zu.
#3 Kraft
Auch hier: Keep it simple. Wir testen die Kraft der Wirbelsäule vorne, hinten und seitlich.
Hier wollen wir vor allem die Kraftausdauer testen. Denn gerade die Kraftausdauer der hinteren Kette ist eine wichtige Fähigkeit, die bei langanhaltenden Rückenschmerzen verloren geht.
Doch Achtung: Die Tests machen bei starken Schmerzen keinen Sinn, da das Ergebnis verfälscht wird.
Darum haben wir die Tests mit Susanne nicht gemacht.
#4 Funktion
Die Funktion sind die Bewegungen und Belastungen, welche Susanne wieder können möchte.
Wir haben uns auf folgende Ziele geeinigt:
- Kurzfristig: Die Ursache herausfinden und einen klaren Fahrplan aufstellen
- Mittelfristig: Den Alltag beschwerdefrei meistern und Gehstrecke erhöhen
- Langfristig: Belastbarkeit steigern und wieder zum CrossFit kommen
Zwei Monate nach dem Eingangstest schickt mir Susanne folgenden Text mit Bild:
Und jetzt fragst du dich wahrscheinlich: "Wie haben die das gemacht?!" Das schauen wir uns im nächsten Abschnitt an.
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Der Behandlungsplan
Schaust du dich im Internet um, findest du folgende Tipps und Übungen:
- Hüftbeuger dehnen
- Bauchmuskeln trainieren
- Körperhaltung verbessern
- Übungen mit der Faszienrolle
- den hinteren Oberschenkel dehnen
Rate mal, was wir alles nicht gemacht haben...
Der Grund ist simpel: Es funktioniert einfach nicht. Stattdessen sind wir einem klaren Fahrplan gefolgt.
Schritt #1: Schmerzauslöser vermeiden
Im Assessment haben wir herausgefunden, welche Bewegungen und Haltungen Susannes Symptome auslösen. Zusätzlich haben wir geschaut, wo diese Bewegungen und Haltungen in Susannes Leben und bisherigen Training vorkommen.
Diese sollte Susanne konsequent für 2-3 Wochen vermeiden.
Das Ziel: Sensibilisierte Strukturen sollen sich beruhigen können.
Denn genau so wichtig, WAS du in der Reha machst, ist auch wichtig, was du NICHT machst.
In Susannes Fall waren es folgende Punkte:
- Aufhören den hinteren Oberschenkel zu dehnen (das hat sie ständig empfohlen bekommen...)
- Starke Beugung und endgradige Drehbewegungen der Wirbelsäule vermeiden - vor allem am Morgen
Schritt #2: schmerzangepasstes Training
Nachdem sich der Rücken etwas beruhigt hat, sind wir zu Schritt #2 übergegangen. Hier standen einfache Beweglichkeitsübungen und graduierte Exposition im Vordergrund.
Weiter oben hast du gesehen: Susannes Rücken ist bretthart. Da bewegte sich nichts.
No bueno.
Darum mobilisieren wir den unteren Rücken sanft mit den Supine Back Stretch.
Das Stichwort ist sanft. Wir wollen die LWS mobilisieren, aber es sollen dabei keine Symptome auftreten.
Zusätzlich haben wir einen Plan zur Steigerung der Gehstrecke aufgestellt. Mein Ansatz: Keep it stupid simple.
Wenn 2000 Schritte am Stück weh tun, beginnen wir mit 1000. Der Plan sah also wie folgt aus:
- Woche 1: ca. 1000 Schritte spazieren, 3x täglich
- Woche 2: ca. 1400-1600 Schritt spazieren, 2-3x täglich
- Woche 3: ca. 1600-1800 Schritte spazieren, 2-3x täglich
- Woche 4: 1800-2000 Schritte spazieren,2-3x täglich
Ab hier ging es super voran. Darum haben wir die Schrittzahl schneller erhöht, sodass Susanne zwei Monate nach dem Eingangstest wieder 10k Schritte am Tag gehen konnte.
Schritt #3: Zurück ins Krafttraining
Das mittelfristige Ziel war erreicht. Also weiter zum letzten Ziel: CrossFit.
Auch hier folgendem den fundamentalen Prinzip der Adaptation. Der Körper passt sich IMMER an Reize an. Vorausgesetzt sie übersteigen eine gewisse Schwelle.
Das heißt, sie dürfen nicht zu leicht sein, dass es den Körper nicht juckt. Sie dürfen aber auch nicht zu schwer sein, dass erneut Symptome ausgelöst werden (wobei gewisse Schwankungen in der Reha normal sind).
Wie lösen wir das Problem?
Wir fangen mit einer Übung an, die auf jeden Fall funktioniert und steigern uns von da ausgehend konsequent.
Meine Lieblingsübung für super sensible Rücken: Das Kettlebell Kreuzheben aus einer erhöhten Position:
Über die nächste zwei Jahre hat Susanne zunehmend und vor allem langsam den Bewegungsumfang und das Gewicht erhöht.
Fast forward: Zwei Jahre nach dem Eingangstest war sie mal wieder für einen Termin in Leipzig.
Das ist alles passiert:
- Ihrem Rücken geht es super
- Sie hat keine Nervenschmerzen mehr
- Sie braucht keine Schmerztabletten mehr und
- Sie kann ihren Sport wieder ausführen
Im nachfolgenden Video siehst du, wie sie beim rumänischen Kreuzheben 80 kg für 5 Wiederholungen macht:
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Zusammenfassung
Susanne ist ein besonderer Fall, den ich nicht vergessen werde. Ihre Situation schien ausweglos. Was denn da bitte machen?!
Und es zeigte sich wieder deutlich: Ein strukturiertes Assessment ist der Schlüssel zum Erfolg.
Nur so konnten wir herausgefunden, wo wir bei Susanne ansetzen mussten und wie ein konkreter Fahrplan für sie aussehen sollte.
Zwei Jahre später ist sie komplett beschwerdefrei und hebt wieder 80 kg im Kreuzeben.
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Über Felix
Meine Name ist Felix Kade und ich arbeite als Personal Trainer in Leipzig, sowie als Dozent für (Reha-)Trainer in ganz Deutschland. Unter anderem bin ich ausgebildet als medizinischer Fitnesstrainer, Reha-Trainer für Orthopädie, Faszientrainer und vieles mehr.
Durch moderne Erkenntnisse aus der Neuro- & Schmerzwissenschaft helfe ich meinen Klienten, den Schmerzkreislauf schneller hinter sich zu lassen und wieder mehr Zeit sowie Energie für die wichtigen Dinge im Leben zu haben.
Titelbild: hirurg - canva.com