Was ist die Ursache für Schmerzen? Liegt es an einem verhärteten Muskel?
Tritt Schmerz wegen einer degenerativen Erkrankung wie Arthrose oder aufgrund eines Bandscheibenvorfalls auf?
Liegt die Ursache vielleicht an deinen Fehlhaltungen?
Googelt man nach einem körperlichen Problem, findet man schnell solche eindimensionalen Begründungen: Du hast X, weil Y.
In der Realität sehen die Dinge meistens anders aus. Denn Schmerzen haben ihre Ursachen häufig in körperlichen, psychologischen UND sozialen Faktoren. Wir nennen dies das Bio-Psycho-Sozial-Modell.
In diesem Artikel von meinem geschätzten Kollegen Dominik Czerny erfährst du mehr über dieses Modell der modernen Schmerzwissenschaft.
Was hat es damit auf sich? Was sind die wahren Schmerzauslöser und welche Rolle spielt die Haltung dabei? All dies klären wir im folgenden Artikel.
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Das Bio-Psycho-Sozial-Modell
Im letzten Jahrzehnt trat ein Wandel auf. Und dieser Wandel verstärkt sich in den letzten Jahren. Und es ist ein guter Wandel.
Langsam und auf einem sehr steinigen Weg bahnt sich der aktuelle Stand der Wissenschaft den Weg in die Therapie- und Ärztekreise. Die Evidenz im therapeutischen Kreis wird immer klarer.
Okay, um ganz ehrlich zu sein, sind viele Erkenntnisse schon das erste Mal vor 20 – 40 Jahren in wissenschaftlichen Studien gemacht worden.
Das Problem, welches jeder im Ernährungs- und Trainingsbereich kennt: Die allermeisten Fort- und Ausbildungen sowie Studiengänge, Lehrer und Dozenten, aber auch Therapeuten, Osteopathen, Heilpraktiker, Chiropraktiker und Trainer sind nicht auf dem aktuellen Stand. Und sind leider sehr weit davon entfernt.
Wenn man bedenkt, dass man mit der Gesundheit (und dem Geld) des Patienten spielt, ist es umso trauriger. Ich vermute ganz stark, dass es noch mindestens 30 Jahre dauern wird, bis der aktuelle Stand der Wissenschaft langsam in den Therapiebereich einkehrt.
Aber wieso ist es so schwer, die Evidenz einzuführen? Es wird höchstwahrscheinlich an folgenden Punkten liegen:
- man denkt nicht kritisch genug und glaubt alles, was einem vorgegaukelt wird ohne es zu hinterfragen
- keine Englischkenntnisse
- kein Wissen, wie man Studien korrekt beurteilen soll und kein Wissen, wo die Quellen sein sollen
- Autoritätsdenken ist, vor allem in dieser Generation, noch extrem ausgeprägt
- viele Vortragende wüssten es besser, allerdings müssen sie sich an ein Kurrikulum halten und verlieren eventuell den Job
- „Das haben wir auch schon so gemacht und gelernt“, „Das schadet ja nicht“ und andere Non-Sense-Erklärungen
Setchell J, et al starteten eine Umfrage. In dieser fragte die Forschergruppe die Rückenschmerzpatienten, woher sie die Aussagen für Rückenschmerzen haben. Folgende Ergebnisse gab es:
- Ärzte und Therapeuten (89%)
- Internet (24%)
- Familie (9%)
- Freunde (5%)
Ebenfalls wurde herausgefunden, dass die Patienten der Überzeugung sind, dass der Körper wie eine Maschine funktioniere, die Rückenschmerzen dauerhaft oder unveränderbar seien und dass Schmerz negativ sei (z.B. Schaden = Schmerz).
Diese Überzeugungen stammten zum Großteil von Ärzten und Therapeuten, wie wir oben erkennen.
Wir müssen die Fakten, die unten gleich folgen, nicht nur unseren Patienten beibringen, sondern auch den Ärzten und Kollegen. Wir kämpfen an zwei Fronten. Und es reicht nicht die Patienten zu überzeugen, wenn der Arzt oder die Umgebung genau das Gegenteil erzählt, was wir als evidenzbasiert arbeitende Therapeuten mitteilen.
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Schmerzauslöser - Die Anfänge und Grundlagen
Im frühen 1600 veröffentlichte der Philosoph und Mathematiker René Descartes eine Theorie, um Schmerz zu erklären: Eine Störung wird durch eine Nervenfaser zum Gehirn weitergeleitet.
Unglaublich viele Therapieformen für Schmerz basieren auf diesem Model der „Schmerzrezeptoren“, welche Schaden oder Degenerationen aufspüren und „Schmerzsignale“ zum Gehirn senden sollen.
Viele Menschen, und Gesundheitsexperten (u.a. Therapeuten, Ärzte) denken ebenfalls so.
Aber wie genau erklärt dieses Modell von Descartes wirklich Schmerz? Ist dieses Modell mit der modernen Schmerzwissenschaft vereinbar?
George Engel entwickelte das Bio-Psycho-Sozial-Modell (kurz: BPS-Modell), welches in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewinnt. Der Grund?
Descartes-Reflex, um das 16. Jahrhundert
Der Gedanke des biomedizinischen Modells (z.B. „degenerative Veränderungen = Schmerz“) ist in den meisten Fällen einfach nur überholt.
Das BPS-Modell beschreibt wie biologische (z.B. Genetik, Entzündungen), psychische (z.B. Katastrophisierung, Stimmung) und soziale (z.B. Arbeitsplatz, Bildung) Faktoren Schmerzen verursachen und beeinflussen, aber auch physiologische und hormonelle Faktoren sollte man nicht ausschließen.
Das Bio-Psycho-Sozial-Modell, eigene Grafik von Dominik Czerny
Im Allgemeinen spricht man dann von einem übersensiblen Nervensystem, welches für Schmerzen sorgt.
So ist Schmerz immer ein multidimensionales Problem. Wieso ein Patient nun zum Zeitpunkt A den Schmerz B verspürt, weiß man nicht.
Wie man seit den letzten Jahrzehnten weiß, ist Schmerz viel weniger die Folge von pathoanatomischen Aspekten.
Schmerz ist die Folge und schützende Antwort des Körpers aufgrund individuell wahrgenommener Bedrohung, Gefährdung und Störung der Homöostase durch neuroendokrine Systeme.
Diese Systeme interagieren ständig und sind durch oben genannte Faktoren beeinflusst. So stehen diese Faktoren also in gegenseitiger Beziehung, wodurch der wahrgenommene Schmerz schwanken kann.
Wie viel diese Faktoren jemanden beeinflussen ist individuell abhängig. Siehe dazu die Grafik "individuelle Schmerzschwelle."
Schmerzen sind individuell, eigene Grafik von Dominik Czerny
Schmerz hängt also immer vom Kontext ab. So wird einem klar, dass die Therapie immer individuell ablaufen muss und es nicht „DAS“ Allheilmittel für unsere Patienten gibt.
Genauso müssen wir unsere Patienten multidimensional betrachten, um die Auslöser für Schmerz zu finden.
Wie wir aber auch im Diagramm "Das "kleine" Bio-Psycho-Sozial-Modell" erkennen können gibt es sowohl beeinflussbare als auch weniger und nicht beeinflussbare Faktoren.
Schmerz ist kein Input, sondern ein Output. Die Theorie von Descartes ist überholt.
Schmerz ist kein Input, sondern ein Output. Die Theorie von Descartes ist überholt.
Physiotherapeuten und Trainer, aber auch alle Mediziner, sollten dies endlich akzeptieren, dass das biomedizinische und -mechanische Modell zum Großteil überholt ist.
Wir müssen multidimensional an unsere Patienten herangehen. Wir sind nicht nur Bewegungstherapeuten, sondern Lehrer und Psychologen gleichermaßen.
Unser Patient muss lernen, was die leitenden Faktoren sind und wie er die vom Körper wahrgenommene Bedrohung reduzieren kann.
Unser Patient muss wissen und erkennen, dass er die Kontrolle über den Schmerz haben kann.
Schmerz ist also eine normale und sinnvolle Reaktion von unserem zentralen Nervensystem. Dieses schätzt etwas als eine bedrohliche Situation ein und gibt uns das Signal allgemein unser Verhalten zu ändern.
Als Bewegungstherapeuten arbeiten wir mit dem Patienten daran, deren Ängste vor Bewegungen zu nehmen. Ebenfalls erarbeiten wir Bewegungen, Positionen und Belastungsschemata, bei denen der Körper im Moment am wenigsten sensibel reagiert.
Das Ganze ist viel Arbeit. Arbeit, die dadurch erschwert wird, dass der aktuelle Stand der Wissenschaft nur eine Minderheit erreicht hat.
Auch macht uns die geringe Behandlungszeit (Deutschland: 15-18 Minuten pro Patient, 2 x / Woche) es uns nicht leicht. Wir sollten aber unser bestes tun.
Denn deswegen sind wir Therapeuten geworden: Um unseren Patienten so gut es nur geht zu helfen. Hier ist ebenfalls Aufklärung und Beratung wichtig. Hilfreich wäre es, Edukation als Verordnung in den Heilmittelkatalog hinzuzufügen.
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Haltung - wirklich ein Schmerzauslöser?
Überall hört man es immer wieder: “Dein verspannter Muskel x ist für die Probleme verantwortlich” und “Deine Fehlhaltung ist die Ursache für die Beschwerden”.
Wenn wir von Haltung sprechen, müssen wir erst einmal klarstellen, ob wir nun von einer statischen oder dynamischen Haltung sprechen.
Ich kann eine von der Theorie her perfekte statische Position aufweisen, aber wenn ich mich in Bewegung setze kippt das Ganze und ich gehe ins Hohlkreuz, sorge für eine Translation des Kopfes oder proniere im Fußgelenk.
Das ganze Spiel auch andersherum: Ich kann eine dynamisch “gute” Haltung haben, aber in der Statik nehme ich eine “schlechte” Position ein. Aber was ist überhaupt “gut” oder “schlecht”?
Es sind letztendlich nur Begriffe, die es in der Theorie gibt. Wenn es wirklich eine faktisch zu klar definierende “schlechte” Haltung gibt, dann würden uns die Studien der vergangenen Jahre und Jahrzehnte darauf aufmerksam machen.
Dies ist aber nicht der Fall. Der Body of Evidence zeigt, dass es keine ideale Position gibt, die für weniger oder keine Schmerzen sorgt. Also stelle ich mir die Fragen:
- Wieso sollte ich eine Haltung ändern, die nicht mit Schmerz korreliert?
- Wieso sollte ich eine Haltung ändern, wenn es kein “falsch” gibt?
- Wieso sollte ich eine Haltung ändern, wenn es extrem schwer ist, dies überhaupt in Angriff zu nehmen?
Unsere Haltung hat letztendlich viel mit der Wahrnehmung zu tun. Und erst, wenn sich diese ändert, wird sich die Haltung auf langer Sicht ändern.
So ist der Patient der wichtigste Faktor in diesem Prozess. Innerhalb der Zeit, in der wir einen durchschnittlichen Praxis-Patienten sehen, können wir kein theoretisches Re-Alignment erreichen. Dies geschieht erst nach Monaten und Jahren.
Aber wie groß ist die Anzahl der Patienten, die dies auch längerfristig umsetzen? Meiner Erfahrung nach extrem gering, vor allem, da uns der Alltag und Stress immer wieder einholt.
So ist das Beste, was wir unseren Patienten mit auf den Weg geben können, dass sie so oft wie möglich ihre Haltung ändern sollten. Denn nicht die Haltung macht die Probleme, sondern viel mehr die Dauer, in der wir in der entsprechenden Haltung verweilen.
Your best posture is your next posture.
Genauso macht es wenig Sinn, eine Position zur Haltungsänderung einzunehmen, die (viel) anstrengender als unsere jetzige Position ist. Sobald wir abgelenkt werden oder die Konzentration verlieren, nehmen wir unsere ursprüngliche Haltung ein, was aber in den meisten Fällen nicht schlimm ist.
Wir müssen uns einfach vor Augen führen, dass Haltungsänderungen und die Haltungen der Personen nicht von heute auf morgen geschehen, sondern ein längerer Prozess ist. Der Körper hat und nutzt genau diese Zeit, um sich neu zu ordnen und sich bezüglich der Strukturen anzupassen.
Unser Körper ist anpassungsfähig. Und genau hier müssen wir als Physiotherapeut und Trainer eingreifen.
Wir müssen den Patienten unbedingt klar machen: Sie haben zwar Rückenschmerzen, dies bedeutet aber nicht, dass ihr Rücken ein Wrack ist.
Man muss ihnen den aktuellen Stand der Wissenschaft nahe bringen und erklären, warum die biomechanischen Faktoren und strukturelle, funktionelle und degenerative Veränderungen sehr selten mit Schmerz korrelieren und damit unseren Klienten / Patienten die Angst nehmen.
Versteht mich jetzt nicht falsch. Biomechanik spielt eine Rolle. Ich würde bei niemandem, der mit einem eingerundeten Kreuzheben ausführt, mit pronierten Füßen beugt oder mit protrahierten Schultern drückt, sagen “Biomechanik ist egal. Mach so weiter”. Wenn es um hohe Lasten und dynamisch hohen Belastungen geht, ist Biomechanik nicht wegzudenken.
Im frei zugänglichen Review "Dehnen | Stretching und Verspannungen | Verkürzungen“ von mir auf rawo.at gehen wir noch mehr ins Detail über das Thema Haltung.
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Jetzt bist du dran!
Da du den Artikel bis hierhin gelesen hast, gehe ich davon aus, dass du ernsthaft daran interessiert bist, deine körperlichen Beschwerden loszuwerden.
Leider ist es nicht immer leicht, die richtigen Übungen zu finden. Vor allem weil du bei Google oft widersprüchliche Vorschläge findest.
Jedoch gibt es eine Trainingsmethode, die für jeden Trainingsstand und jedes Alter geeignet ist: Die kontrollierten Gelenkrotationen. Ich nutze sie mit jedem Kunden, egal was er hat.
Damit auch du in den Genuss dieser Trainingsmethode kommst, habe ich das eBook "Schmerzfrei und beweglich mit Gelenkrotationen" erstellt. Darin erfährst du, wie die Gelenkrotationen funktionieren und wie du sie für deine Ziele nutzen kannst.
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Dominik Czerny
Dominik Czerny ist Physiotherapeut und Gründer von Reha.Physio.Coaching. Er arbeitet evidenzbasiert und bildet Trainer und Therapeuten fort. Sein Ziel ist es, die Schmerzedukation voranzutreiben, damit jeder Mensch mit Schmerz optimal und nach aktuellem Stand behandelt werden kann.